Nation und Sprache in Nordosteuropa im 19. Jahrhundert

Nation und Sprache in Nordosteuropa im 19. Jahrhundert

Organizer(s)
Konrad Maier; Nordost-Institut / Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e.V. (IKGN e.V.)
Location
Lüneburg
Country
Germany
From - Until
13.10.2005 - 15.10.2005
Conf. Website
By
Anja Wilhelmi, Lüneburg, Nordost-Institut

Drei ausgefüllte Tage mit Referaten und Diskussionen zum Thema „Nation und Sprache in Nordosteuropa“ bot das Nordost-Institut vom 13. bis 15. Oktober 2005 in Lüneburg unter der Federführung von Konrad Maier. Die Veranstaltung fand zugleich als Jahrestagung des Instituts statt.
Die insgesamt 19 Vorträge versprachen neue Forschungsansätze, differierende Forschungsmethoden und Einblicke in weitgehend unbekannte Forschungslandschaften. Die regionale Vielfältigkeit des Nordosteuropa-Begriffs wurde in diesem Ansinnen durch die Internationalität seiner ReferentInnen unterstrichen.

Der Begrüßung durch den Leiter des Nordost-Instituts Andreas Lawaty und der Einführung durch den Organisator Konrad Maier folgten sozialanthropologische Anmerkungen des Fribourgers Christian Giordano. Illustrativ gelang es ihm, die Rolle der Sprache in Nationalgesellschaften der in postkolonialen Gesellschaften gegenüberzustellen. Der Umgang mit Sprache als einerseits einsprachige Verwendung - wie am Beispiel Schweiz illustriert - und ihrer Mehrsprachigkeit - wie am Beispiel Malaysia - demonstrierte, wie beide Modelle mit Erfolg angewendet werden. Anhand von öffentlichen Schildern wurde die sprachliche Einheit der schweizer Kantone den mehrsprachigen und zahlreichen öffentlichen und auch privaten Schildern in Malaysia gegenübergestellt. "Malaysische Verhältnisse" sollten dann auch zu einem festen Bestimmungsfaktor in den kommenden Tagen der Konferenz werden.
Vor allem regionale Kriterien bestimmten die nachfolgenden Abschnitte bzw. Diskussionsblöcke der Tagung. Den Anfang unternahmen drei Referenten zu verschiedenen Fragestellungen im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts.

Karsten Brüggemann (Tallinn) läutete die Runde mit Betrachtungen zur „Sprachlichen Konstruktion des ‚Anderen’. Russische ‚ethnografische’ Beschreibungen der Völker am Finnischen Meerbusen am Ende des 19. Jahrhunderts“ ein. Anhand von russischen Texten aus den 1870er Jahren schilderte Brüggemann die - wenn man so will - ethnografische Entdeckung der autochthonen Völker. Das Bild "der Esten" und "der Letten" rekurriere - so Brüggemann - auf Schilderungen deutsch(baltisch)er Autoren. Schilderungen, die denen der russischen Intelligencija stark ähneln, wenngleich von russischer Seite Sympathie und Empathie für das "estnische Bauernvolk" zum Ausdruck kam. Eine Wertung ihrer sozialen Position aufgrund ethnografischer Sonderheiten erfolgte hier weniger intensiv. Beide Betrachtungen vereine dagegen ihre Perspektive, die auf eine eigene kulturelle Höherwertigkeit, der Russen wie auch der Deutschen., verweise.

In „Patriotische Paradoxa. St. Petersburger deutschsprachige Periodika zwischen 1805 und 1814“ nahm Alla Keuten (Bremen) den Begriff „Patriotismus“ in die Diskussion auf. Mit den Beispielen „St. Petersburger Monatsschrift zur Unterhaltung und Belehrung“, „Ruthenia“ und „Der Patriot“, allesamt unter der Herausgeberschaft von F.E. Schröder, thematisierte sie das uneinheitliche Verhältnis von Sprache und Nation. Keuten verband hierbei die von ihr gewählte Teminologie „Patriotismus“ mit dem Konzept der Wahlheimat, und veranschaulichte, dass patriotische Artikel nicht zwingend an eine Sprache der Wahlheimat gebunden sein mussten.

Elena Zemskova (Moskau) untersuchte die "Konstruierung der nationalen Sprache in den Schriften des russischen Autors A.S. Šiškov: 1803-1815" und die deutschen Einflüsse auf ihn, die sie in erster Linie in den Werken von J.G. Campe und E.M. Arndt erkannte. Zemskova gelingt die Herausarbeitung eines nationalen Sprachkonzepts in der russischen Kultur. Anhand von Beispieltexten aus der Feder Šiškovs belegt sie Transformationen und Umdeutungen des einstigen "deutschen" Konzepts mit seiner Prägung von Campe und Arndt.

Im zweiten regionalen Schwerpunkt „Polen“ referierten Maria Zadencka, Hans-Jürgen Bömelburg und Regina Hartmann.
Maria Zadencka (Stockholm) beleuchtete in ihrem Vortrag „’Die Sprache der Nation’ in den Arbeiten der Warschauer ‚Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften (1800-1832)’“ diejenige Institution, in der die Bildung einer „modernen, standardisierten Nationalsprache“ betrieben wurde. Auf der Grundlage von einigen hervorgehobenen Projekten betrachtete Zadencka den Nationsbegriff der Warschauer Gesellschaft, dessen Unklarheit auf eine Umbruchphase zurückzuführen sei.
„Sprache und nationale Integration bzw. Segregation im Preußenland (1772/1815-1920)“ lautete der Titel des Referats von Hans-Jürgen Bömelburg (Lüneburg), in dem der Referent v.a. Variationen von Umgangssprachen, Verwaltungssprache und Landessprache untersuchte. Als Beispiel für eine utilitaristisch argumentierte Durchsetzung des Deutschen stellte er den Rahmen und die Grenzen der preußischen Sprachpolitik zur Diskussion.
Regina Hartmann (Szczecin) sprach in ihrem Vortrag „’Glaub’-Wirklichkeit – die Macht der Sprache im Diskurs des ‚Bollwerk’-Syndroms in Ostpreußen (1914/15)“ über ein literarisches Phänomen, dessen Ursprung in der Invasion russischer Truppen in Ostpreußen lag. Das „Bollwerk-Syndrom“ veranschauliche die „Macht der Sprache“, die eine „Sprach-Realität“ zu schaffen imstande sei. In der Verschränkung von Sprache und Nation sah Hartmann verschiedene Faktoren, insbesondere regionale Identitäten, mit eingeflochten.

Mit dem heutigen Staatsterritorium Litauens beschäftigten sich in einem nächsten Block Mathias Niendorf, Jürgen Joachimsthaler und Giedrius Subačius.
In seinem Beitrag „Zwischen historischer und ethnischer Nation: Die litauische Nationalbewegung und die Sprache“ erarbeitete Mathias Niendorf (Kiel) die enorme Relevanz der Sprache auf die litauische Nationalbewegung, die sich v.a. gegen die Mehrsprachigkeit des Russischen, Polnischen und Jiddischen/Hebräischen auszeichnete. Anders als in den Nachbarregionen Lettland und Estland habe sich auf litauischem Gebiet die Sprachförderung nicht durch Pastoren vollzogen, sondern durch Wissenschaftler.
Einer anderen Facette wendete sich Jürgen Joachimsthaler (Dresden) mit seinem Referat „Die deutschen Litauer. Konstruktion der litauischen Minderheit Ostpreußens in der deutschen Literatur des Kaiserreichs“ zu. Er ging dabei der Kernfrage nach, was es bedeute, dass die Litauer zum deutschen Volk hinzu gerechnet würden. Anhand von literarischen Vorlagen (Ernst Wichert u. Hermann Sudermann) gab Joachimsthaler einem romantisierenden „Litauerbild“ Konturen, das als Gegenentwurf zum „Polenbild“ entstanden sei und in dem die Litauer in der reichsdeutschen Politik als „Naturvolk“ einem deutschen „Kulturvolk“ gegenübergestellt worden seien.
Einflüsse auf die Sprachentwicklung demonstrierte Giedrius Subačius (Chicago) in seinem Referat „Official Cyrillic Alphabet for Lithuanian (1864-1904) and its Relation to the Clandestine Standardization of Lithuanian in Latin Script“. Vor dem Hintergrund des Verbots der lateinischen Schriftzeichen durch die russische Zensur habe sich – dies belegt Subačius anhand von zwei Autoren – ein regionales kyrillisches Alphabet etabliert, in dem lateinische Schriftzeichen Eingang gefunden hätten. Während sich in den 1880er Jahren unter den Litauern zunehmend ein Bewusstsein für die eigene Schriftsprache in lateinischen Lettern herausgebildet habe, wäre damit die offizielle Kyrillisierung der litauischen Schrift konterkariert worden.

Kaspars Kļaviņš (Daugavpils) deckte in seinem Vortrag „Perceptions of the Latvian people’s culture“ den Einfluss der lettischen Volkskultur auf deutsche Gelehrte des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts auf. Im Zentrum seiner Untersuchung standen v.a. die Schriften J.G. Herders und die Mythologie R. Wagners, in denen Elemente der lettischen Volkskultur wieder zu finden seien. Mit Blick auf die Gegenwart wertete Kļaviņš diese Entwicklung als eine Möglichkeit des besseren Verständnis der Kulturen von- und untereinander.
Bereits der Titel von Stefan Kesslers (Greifswald) Referat „Die Misserfolgsgeschichten von Lettgallisch und Schemaitisch“ führte eine neue Facette in die Thematik über Nation und Sprache ein, in die nunmehr eine Wertung bzw. teleologische Perspektive mit aufgenommen wurde. Die fehlende Etablierung des Schemaitischen als Nationalsprache sah Kessler insbesondere durch das Fehlen eines eigenen Herrschaftszentrums gegeben. Auch die Notwendigkeit einer politischen Emanzipation als ein weiterer Faktor der Identitätsbildung über die Sprache konnte Kessler der Region mit vorwiegend schemaitischem Sprachgebrauch nicht zuordnen.

Petēris Vanags (Stockholm) „Problems of Standard Latvian in the 19th century. Changes of the language planning and changes of planners“ griff dagegen, um mit den Worten Kesslers zu sprechen, auf eine „Erfolgsgeschichte“ zurück. Vanags schilderte den Verlauf der lettischen Sprachentwicklung und legte in dieser Umschau besondere Gewichtung auf die Akteure und ihre institutionelle Einbindung, die sich nämlich ab den 1840er Jahren von einer rein deutschen, hier insbesondere die Lettisch-literarischen Gesellschaft, über eine Parallelität deutscher und lettischer Arbeit bis hin zur polemischen Auseinandersetzung und zur Gründung der Rigaer Lettischen Literarischen Gesellschaft am Ende der 1860er Jahre hinzog.

Estland, das Territorium des estnischen Staates bzw. die estnische Sprache wurden von Tiina Kala, Ulrike Plath und Cornelius Hasselblatt behandelt.

In „The Church and the Language. Problems of Spiritual and Intellectual Progress in Estonian Church Life in the 18th Century“ ging Tiina Kala (Tallinn) der Frage nach, ob der Gebrauch der Nationalsprache im religiösen Leben ein an sich positives Phänomen darstelle, und daraus folgernd, wann und unter welchen Bedingungen die Ausweitung der Nationalsprache in andere Bereiche die Entwicklung einer nationalen Identität bewirkenkönne. Kala berief sich damit auf ein Konzept der aktuellen estnischen Historiografie, das bei der Herausbildung der estnischen Sprache und Identität zwei Postulate voraussetzt: erstens eine allgemein positive und progressive Bewertung des Gebrauchs der Nationalsprache im Kirchenwesen und zweitens die hohe Bedeutung der Evangelischen Kirche für die Schaffung einer estnischen Schriftsprache.

Ulrike Plath (Mainz) wandte sich dem Sprachgebrauch einer einzelnen Bevölkerungsgruppe, den Deutschbalten in einer mehrsprachigen Gesellschaft zu. In ihrem Vortrag „Deutsch – Estnisch – Russisch? Zur Bedeutung der Umgangssprache im baltischen Kulturkontakt zu Beginn des 19. Jahrhunderts“ stützte sie sich primär auf Ego-Dokumente als „Erinnerungsorte des baltischen Kulturkontakts“, um für das Beispiel der Deutschbalten festhalten zu können, dass weder transnationale noch multiple sprachliche Identitäten vorgelegen hätten.
Unter dem Titel „Die Nationslosigkeit der Sprache. Zur Problematik des Begriffspaars Nation/Sprache am Beispiel Estlands im 19. Jahrhundert“ hinterfragte Cornelius Hasselblatt (Groningen) die Terminologie „Nation“ als ein im Nachhinein aufgestülptes Konzept. Gegen das unklare und zeitgebundene Konzept der Nation stellte Hasselblatt das festumrissene Konzept der Sprache. Sprache und Nation – so das Fazit Hasselblatts – verbinde kein festes Verhältnis.

In der letzten Vortragsrunde wurden weitere regionale Studien gesammelt und überregionalen Fragestellungen nachgegangen.
„Das Nationale und die Stellung der Sprache im Großfürstentum Finnland“ untersuchte Erkki I. Kouri (Helsinki). Im Vortrag, dem ein historischer Überblick über die Entwicklung des Sprachproblems und des Nationalen im Großfürstentum Finnlands vorangestellt war, widmete sich Kouri insbesondere der Frage der Dualität des Finnischen und des Schwedischen; ein Sprachstreit zwischen einer finnischsprachigen Unterschicht und einer schwedischsprachigen Oberschicht, der zu einem „Klassenstreit“ ausufern sollte. Die Durchsetzung des Finnischen, die sich spätestens 1850 mit der Einführung als Verwaltungssprache abzeichnete, habe – so Kouri – v.a. auf ökonomischen Faktoren basiert.

Am Beispiel Kroatien-Slavonien erläuterte Wolfgang Kessler (Herne) zwei konkurrierende Sprachkonzeptionen in seinem Vortrag „Sprache als Konstrukt der ‚Nation’ und Nation als Konstrukt aus der Sprache. Am Beispiel der Kroaten bzw. der Serben im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts“. Hier stellte der Referent die politischen Ansprüche der Stände Kroatiens den aus linguistischen Motiven abgeleiteten serbischen Forderungen gegenüber – ein Konflikt, der aus einer mehrsprachigen Region mit sprachlich-konfessioneller Gebundenheit erwuchs bis in die jüngste Gegenwart ausgetragen wird.

Weit über den zentralen Schwerpunkt der Tagung hinaus ragte der Untersuchungszeitrahmen von Ralph Tuchtenhagen (Hamburg) in dem letzten Vortrag der Veranstaltung mit dem Titel „’Skythen’ – ‚Mongolen’ – ‚Finnen’. Zur Völkerkunde im Zeitalter der Aufklärung“ hinaus. Tuchtenhagen betrieb in seinem Beitrag zur Vorgeschichte der Finnougristik und der Baltistik sowie der nordosteuropäischen Nationalbewegungen von der Antike bis zum 18. Jahrhundert eine „Archäologie des Wissens“im Foucaultschen Sinne. In seiner Analyse über die „Völkerpsychologie“ (Kant) der Finnen deckte Tuchtenhagen die unterschiedlichen, teils nationalen Forschungsansätze auf und verband diese mit den Ideen der zeitgenössischen Sprachforschung. In seiner abschließenden Absage an den Nationsbegriff plädierte er für die Verwendung des Volksbegriffes.

In der Zusammenfassung der Tagungsergebnisse durch Konrad Maier wurden die Probleme der „Inhomogenität der Prozesse und Zeitlichkeiten“ hervorgehoben. Das 19. Jahrhundert habe sich in allen behandelten Regionen als ein Zeitabschnitt konturiert, in dem alle ethnischen Gruppen einen Sinn im Nationsbegriff gesucht hätten. Der Erfolg, also die Durchsetzung einer Sprache zur Nationalsprache, korreliere in diesem Sinn stets mit der Durchsetzungsfähigkeit seiner tragenden Schichten. Nationale Zielsetzungen oder nationale Findungsprozesse wären damit stets an das Vehikel der Sprache gekoppelt. Sprache als Mittel zum Zweck könne auf ein dreigliedriges Schichten- bzw. Phasenmodell übertragen werden, in dem die traditionelle Elite, der Adel und die Kirche, die erste Ebene bildeten. Auf ihr setze eine Intellektuellenelite auf, die die Sprache als neues Ideal begründe, das dann verstärkte Aufnahme in der allgemeinen Bevölkerung finde. Die damit einhergehende ideologische Aufladung der Sprache habe überdies in allen Regionen zur Abkehr von einer Multilingualität geführt. Monolingualität habe zur Erfolgsgeschichte beigetragen und Fremdsprachen seien zu Feindsprachen umfunktionalisiert worden.

Die Abschlussdiskussion kehrte die Abkehr einer teleologischen Wertung der National- und Sprachentwicklung heraus. Einer Historiografie, die Erfolg (Nationalgeschichte) und Misserfolg (Unterdrückungsgeschichte) messe, wurde in diesem Zusammenhang eine Absage erteilt. Zugleich konnte ein Spezifikum des Untersuchungsraums klar herausgearbeitet werden. Nationale Bewegungen kristallisierten sich in den Regionen heraus, in denen Vielsprachigkeit vorlag und deren zumeist polyglotte Trägerschaft (gemeint sind hier v.a. die Bestrebungen von einzelnen Akteuren) die Parzellierung der Regionen betrieb. Unerlässlich scheint in diesem Zusammenhang die Bewertung der Vorgänge vor dem Hintergrund von ökonomischen und regionalstrukturellen Umbrüchen.

Wenngleich die Komplexität des Sprachenphänomens anhand der Beiträge unstrittig blieb, konnte das Problem der Anwendung eines Nationsbegriffs aufgrund seiner zeitlichen Fixierung sowie fehlender Griffigkeit und Nutzbarkeit nicht gelöst werden. Weitere Einzelforschungen könnten hier die Problemlage und terminologische Begriffsunklarheiten lösen.

Im Tagungsband „Nation und Sprache in Nordosteuropa im 19. Jahrhundert“ des Nordost-Instituts können die Ergebnisse nachgelesen und die Diskussionen weiterverfolgt werden.


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